Schwammstadt

Schwammstadt: Regenwasser in Städten lokal aufnehmen und speichern statt kanalisieren und ableiten.
biodiverse_schwammstadt_anschluss_2_2023

Anja Herlyn und ich treffen uns beim Brugger Bahndamm auf dem Areal eines stillgelegten Grundwasserpumpwerks der IBB, wo wir mit dem «Wohnhaus im Bilander» ein Leuchtturmprojekt in Sachen Nachhaltigkeit umsetzen. Die Idee, Elemente der Schwammstadt zu realisieren, ist in der Region innovativ.

Anja Herlyn im Gespräch mit Felix Kreidler

Anja Herlyn wohnt in Windisch, ist Ingenieurin Wasserwirtschaft und engagiert sich als Mitglied der Geschäftsleitung der WIF Partner AG seit vielen Jahren für den Aufbau eines nachhaltigen Infrastrukturmanagements in den Städten und Gemeinden der Schweiz. Sie ist neu Co-Präsidentin des VSA, dem Verband Schweizer Abwasser- und Gewässerschutzfachleute, und aus diesem Grund die optimale Gesprächspartnerin für das Thema Schwammstadt.

Im Video erhalten Sie einen Einblick ins Interview.

Wie sich der Klimawandel auf den Siedlungsbau auswirkt und weshalb die biodiverse Schwammstadt eine Lösung ist.

Felix Kreidler: Im Siedlungsbau wurde immer versucht, Naturgefahren möglichst zu eliminieren, etwa Regenwasser gleich abzuführen. Heute weiss man, dass das nicht unbedingt sinnvoll ist.

Anja Herlyn: Es wird heissere Sommer geben, aber auch intensivere Niederschläge, die zu Überschwemmungen unserer Flüsse und in unseren Siedlungen führen. Der Klimawandel hat längst begonnen. Aber dafür ist unsere gegenwärtige Infrastruktur nicht ausgelegt.

Felix Kreidler: Eine Lösung für die Zukunft ist, möglichst viel Wasser in der Siedlung zurückzubehalten.

Anja Herlyn: Und uns auf das zurückzubesinnen, was natürlicherweise war. Es gibt ein natürliches Verhältnis zwischen dem, was versickert, dem, was verdunstet, und dem, was oberflächlich abfliesst. Aber in den Siedlungen haben wir weder Versickerung noch Verdunstung. Die fehlende Verdunstung bewirkt den Hitzestau in den Siedlungen und wirkt sich negativ auf die Lebensqualität im Sommer aus. Ein hausgemachtes Problem, das man auch vor 30 Jahren hätte angehen können.

Felix Kreidler: Unter Fachleuten wird das schon lange diskutiert. In der Bevölkerung ist aber das Konzept der sogenannten Schwammstadt immer noch weitgehend unbekannt.

Anja Herlyn: Eines der Probleme ist die Infrastruktur im Boden: Kanalisation, Regenbecken und am Schluss die Kläranlage mit einem Neuwert von mehreren Zehntausend Franken pro Einwohner. Das sind Investitionen für die Ewigkeit, man kann deshalb nicht einfach ohne Weiteres einen Systemwechsel vornehmen. Und so ist es immer noch so: Es regnet, man führt schnell ab, und am Schluss, in der Kläranlage, kümmert man sich dann um alles.

Felix Kreidler: Eine sogenannte End-of-the-Pipe-Lösung. Vermutlich wäre es viel besser, schon vorher nicht einfach das ganze Regenwasser abzuleiten.

Anja Herlyn: Aber eben: Unsere Infrastruktur wird auf 80, auf 100 Jahre hinaus gebaut, ohne zu wissen, was die nähere Zukunft bringt. Wir müssten also sehr flexibel bleiben mit Infrastrukturbauten, diese immer wieder neu denken, damit wir die Probleme der kommenden 30, 40 Jahren lösen können.

Felix Kreidler: Und wie im Bilanderprojekt Lösungen vor Ort suchen und finden.

Stehen aktuelle Baugesetze im Widerspruch zur Realisierung von Generationenprojekten?

Anja Herlyn: Wir kommen zukünftig nur mit viel Flexibilität zu Lösungen.

Felix Kreidler: Bloss kollidieren wir oftmals mit den heutigen starren Baugesetzen.

Anja Herlyn: Es braucht deshalb mehr Mut, Flexibilität zu ermöglichen. Da müssen wir vom Abwasserverband aktiv sein und die Bauverwalter auf den Gemeinden schulen und ihnen Möglichkeiten aufzeigen. Wenn man nur einem sturen Prozess folgt, wird es schwierig.

Nullenergiebilanz und Biodiversität für Wohnhaus im Bilander im Einklang

Felix Kreidler: Beim Bilander-Projekt, bei dem wir 27 Wohnungen vorsehen, denken wir baulich flexibel. Einerseits streben wir mit den neuesten technischen Möglichkeiten die Erreichung einer Nullenergiebilanz an, andererseits geben wir mit begrünten Dächern sowie Versickerung und Retentionauf dem Grundstück eine Antwort auf den Klimawandel. Zudem schaffen wir bei zunehmend heisseren Temperaturen mehr Wohlbefinden für die Bewohnerinnen und Bewohner sowie für andere Lebewesen.

Anja Herlyn: Verschiedene Untersuchungen der letzten Jahre zeigen, dass die Biodiversität massiv zurückgeht. Dabei ist sie eine wichtige Existenzgrundlage für die Menschen und die Wirtschaftsleistung unseres Landes, das vergessen wir oft. Mir persönlich gefällt der Titel einer OECD-Studie, «Nature is too big to fail». Er beschreibt, welche Risiken ein Rückgang der Biodiversität birgt. Wir müssen also den Kopf aus dem Sand ziehen und Massnahmen zur Verbesserung der Biodiversität ergreifen. Unsere Gewässer haben dabei eine grosse vernetzende Aufgabe: Sie fliessen durch Siedlungsgebiete, durch Wälder, entlang von Wiesen, Tümpeln und Seen, und dieser Vernetzungsgedanke muss wieder an Wert gewinnen. Auch im Siedlungsgebiet kann gezielt durch die Schaffung von Naturräumen und Grünflächen die Vernetzung und damit die Biodiversität verbessert werden. Das schafft Resistenz und Resilienz für unsere Umwelt und unseren Lebensraum. Jede Liegenschaftsbesitzerin und jeder Liegenschaftsbesitzer kann dazu einen Beitrag leisten.

Felix Kreidler: Um diese Fakten populärer zu machen, muss Aufklärungsarbeit geleistet werden. Aber nicht alle sind für das Thema bereit, weil es für sie nicht sichtbar ist. Es braucht daher auf der politischen und behördlichen Seite mehr Bewusstsein. Leider stellen wir fest, dass die Behörden oft abblocken. Neue Ideen erfordern nun mal neue Wege, die aufwendiger zu gehen sind. In komplizierten Verwaltungsstrukturen sind Neuerungen deshalb nicht einfach durchzusetzen.

Anja Herlyn: Die Wissenschaft hält diesbezüglich sehr viele neue Anstösse bereit. Aber es braucht die konkrete Anwendung in der Praxis, um deren Wert zu erkennen. Da wiederum gibt es das Problem, dass neue Lösungen zu Beginn sehr teuer sind.

Felix Kreidler: Erst die Vervielfältigung senkt die Preise, und erst dann können umfangreiche Erfahrungen gesammelt werden, die Vertrauen entstehen lassen.

Zusammenleben im Siedlungsgebiet: der Nimby-Effekt

Anja Herlyn: Wie wollen wir denn in Zukunft in unserem Siedlungsgebiet zusammenleben? Unglücklicherweise haben wir Menschen die Tendenz, stets zu unserem eigenen Vorteil zu optimieren, der sogenannte Nimby-Effekt, …

Felix Kreidler: … was für «not in my backyard», also «nicht in meinem Hinterhof» steht …

Anja Herlyn: … die Haltung, dass gewisse Massnahmen zwar unbedingt wichtig und gut sind und auf jeden Fall umgesetzt werden sollen – aber bitte woanders, nur nicht in der eigenen Nachbarschaft. Von diesem Denken müssen wir wegkommen.

Felix Kreidler: Der Leidensdruck ist in vielerlei Hinsicht noch zu wenig hoch. Die Politik muss deshalb die Diskussion in der Gesellschaft anstossen. Das kann dauern: Die Erfahrung zeigt, dass ein neues Gesetz etwa drei Abstimmungen braucht, bis es verstanden wird.

Urbanes Brugg

Anja Herlyn: Zusammengefasst: Es gibt zu wenig Bewusstsein für die Wasserthemen. Es braucht daher dringend eine bessere Information über die Zusammenhänge zwischen Wasser, Biodiversität und den anstehenden Klimaänderungen.

Felix Kreidler: Dann sehen zum Beispiel die Personen, die gegen das Bilander-Projekt Einsprache erheben, vielleicht nicht mehr nur ein grosses störendes Gebäude – sondern etwas, das für unsere Region ein Pionierprojekt hinsichtlich Klimawandel ist.

Anja Herlyn: Aus gesellschaftlicher Sicht müssen wir in Zukunft verdichtetes Bauen und Themen wie Wasserhaushalt, Energieeffizienz, naturnahe Freiraumgestaltung und soziales Wohnen von Anfang an berücksichtigen.

Felix Kreidler: Ist die Wohnüberbauung im Bilander mit ihren Schwammstadt-Elementen erst mal gebaut, lässt sich dieses Stück «urbanes Brugg für die Zukunft» besser beurteilen.

Anja Herlyn: Das Bilander-Projekt wird ein Aufhänger für die Quartierentwicklung sein. Die Menschen können sich ein Bild machen, werden überzeugt sein, bringen das in ihrem Umfeld ein – in den Vereinen, in die Lokalpolitik –, und so entsteht ein Bewusstsein für dieses neue Wohnen. Denn die Zeit des Einfamilienhauses direkt neben dem Bahnhof ist vorbei.

MM_Bilander_Visualisierung bahnseitig

Die IBB plant auf dem Areal des ehemaligen Grundwasserpumpwerks Bilander ein Nullenergiegebäude. Die bestehende Grundwasserfassung wird mittels Wärmepumpe für das Heizen im Winter und für die Kühlung im Sommer verwendet.

Photovoltaikstrom wird auf dem Dach und an der Fassade produziert. Das Gebäude verfügt über einen guten Dämmstandard und weist eine hohe Speicherfähigkeit auf, hinsichtlich Klimagerechtigkeit vorbildlich. Ausserdem wurden die aktuellen Klimakarten des Kantons für eine hitzeangepasste Siedlungsentwicklung berücksichtigt. Diese sieht eine standortgerechte Bepflanzung mit Versickerung und Verdunstung von Regenwasser nach dem Konzept Schwammstadt vor. Gemäss diesem Konzept wird Regenwasser in Städten lokal aufgenommen und gespeichert, anstatt in die Kanalisation abgeleitet. Gleichzeitig schafft die Schwammstadt Natur-, Erholungs- und Spielflächen für hohe Lebensqualität und Biodiversität.